Auf Besuch in Südafrika bei meiner Freundin Shirley Apthorp. Sie betreibt dort „Umculo“. Das ist ein Projekt, das mit Hilfe der Kunst die Bildung junger schwarzer Südafrikaner verbessern soll. Der Beitrag ist als erstes auf www.KlassikInfo.de erschienen.
Ein sonniger Wintertag in Kapstadt. Kurz nach Schulschluss in der Isilimela Comprehensive School im Township Langa vor den Toren Kapstadts. Schüler fallen übereinander her. Ein schwarzer Junge liegt am Boden, zwei andere liegen auf ihm und halten ihn nieder. Ein Mädchen weint, ein anderes rauft sich die Haare. Ein drittes läuft mit Schrecken im Gesicht davon. Gruppen von anderen Schülern stehen im Kreis herum und schauen sich den Vorgang an. Sie mischen sich nicht ein.
Gewalt ist Alltag für afrikanische Kinder
Die alltägliche Gewalt unter einer Gruppe von Südafrikas Bevölkerung, der man kaum Chancen für eine erfolgreiche Zukunft zuspricht? Alltag an einer Schule für Schwarze in einer Gegend, von deren Besuch man Weißen ohne Begleitung eher abrät? Gewissermaßen. Die Jungen und Mädchen sind nicht in feindlicher Absicht übereinander hergefallen. Sie wurden sogar dazu aufgefordert, von einem Trainer und Coach. Sie waren Darsteller in einem Minidrama, in dem sie eigene Erlebnisse zum Gegenstand machen sollten. Denn die Gewalt, welche die Schüler in einem luftigen „Creativity Room“ an einem sonnigen Wintertag am Kap in dieser Szene darstellten, ist wirklich Alltag. Ihr Alltag. Tausende junger Schwarzer im Schulalter in Südafrika sind Tag für Tag Zeugen von Gewalt, wenn nicht Oper von Gewalt. Diese Gewalt erleben sie in ihren eigenen Familien, an dem Ort, den sie „home“, zu Hause, nennen müssen. Sie erleben sie bei Freunden, bei Verwandten. Sie erleben sie sogar in der Schule, wo sie von Drogendealern bedrängt werden. Gewalt in den Familien der schwarzen Bevölkerung Südafrikas ist eines der größten Probleme, mit denen das Land zu kämpfen hat.

Neun Lehrer für 500 Schüler
Die meisten dieser jungen Menschen haben die Anwesenheit von Gewalt in ihrem Alltag so verinnerlicht, dass sie nicht darüber sprechen können. Andererseits sind auch kaum Personen da, mit denen sie das vertraulich tun könnten. In der Township-Schule in Hout Bay, einem luftigen Gebäudekomplex mit einem kleinen Amphitheater im Innenhof und Blick über die Bucht, betreuen neun Lehrer 500 Schüler. Das reicht kaum, um mit dem Schulstoff über die Runden zu kommen. Für persönliche Zuwendung bleibt überhaupt keine Zeit.
Diesem Teufelskreis zu entkommen, dafür gibt es nur wenig Hoffnung für den größten Teil der schwarzen Bevölkerung Südafrikas,. Die in jungen Jahren erlebte Gewalt – Ehemänner kommen betrunken nach Hause, sie schlagen ihre Frauen, sie schlagen ihre Söhne, sie missbrauchen ihre Töchter – setzt sich in den Köpfen fest und in den Lebensläufen fort. Wenn aus den Jungen Männer, Ehemänner und Väter geworden sind, handeln sie nach dem Vorbild ihrer Väter. Die heutigen Mädchen lassen sie später als Ehefrauen und Mütter gewähren.
Die Minidramen im Kreativ-Raum sollen ein Mittel sein, damit die Saat der Gewalt nicht widerstandslos aufgeht. Sie werden ermöglicht von „Umculo“, einer deutsch-südafrikanisch-australischen Non-Profit-Organisation. „Umculo“ wurde vor zehn Jahren von der Musik-Journalistin Shirley Apthorp ins Leben gerufen. Ihre Familie stammt aus Südafrika und Australien. Inspiriert wurde sie dazu vom venezolanischen „Sistema“ und dessen Erfolgen bei der Ausbildung junger Menschen aus sozial schwachen Schichten. El Sistema bildet junge Menschen aus sozial schwachen Schichten zu Instrumentalisten und Dirigenten aus. Der berühmteste Sprössling des Systems ist Gustavo Dudamel. Apthorp sah die Stärke der schwarzen Südafrikaner in ihren guten Stimmen und ihrer Lust am Singen. Ihre ersten Projekte befassten sich damit, Gesangsbegabte Schwarze an die europäische Gesangskunst, an die Chor-und Operntradition heranzuführen. Dafür begeisterte sie Musiker und Regisseure aus Deutschland und Österreich und brachte sie dazu, Opern mit schwarzen Mitwirkenden aus Südafrika zu erarbeiten. Purcells „King Arthur“ etwa und Monteverdis „Orfeo“.

Mit der Zeit würde die sozialpolitische Seite der Aktivitäten gestärkt. Nach wie vor begegnen sich die Mitwirkenden und ihr Publikum in Musikschulen und Theatern in ganz Südafrika. Aber nun geht „Umculo“ selbst an die Brennpunkte. Dort, an Schulen und Gemeindezentren in Townships, veranstaltet die Organisation Aufführungen und zum Thema der Produktionen gehörende Workshops.
Seit den Umsiedlungen des „Group area act“, nach dem die weiße Apartheid-Regierung in den 1950er Jahren den Bevölkerungsgruppen in ganz Südafrika eigene Wohngebiete zuwies – und damit die schwarze Bevölkerung aus den „guten“ Quartieren weißen in das Umland der Großstädte verbannte – liegen die eigentlichen Ballungzentren des Landes in diesen „Township“ genannten Siedlungen. Der bekannteste und größte ist Soweto – South Western Township – bei Johannesburg mit über zwei Millionen Einwohnern.
Townships sind soziale Brennpunkte
Im Großraum Kapstadt leben mehr als 2,5 Millionen Menschen in verschiedenen Townships, die bis zu 50 Kilometer von der Stadt entfernt sind. Gleichzeitig und systematisch wurde die schwarze Bevölkerung mit dem „Bantu Education Act“ auch von den Bildungsinhalten der „Weißen“ ferngehalten und mit minderwertigen Lehrplänen abgespeist. Das rächt sich heute. Die physischen Grenzen der Townships sind zwar gefallen. Aber Weder im Bildungsniveau noch im Wertesystem hat die Mehrheit der schwarzen Bevölkerung Südafrikas bis heute zum Standard der „Weißen“ aufschließen können. Von Angleichung an die Lebenswelt der „Weißen“ kann gar keine Rede sein.

Mit der Besinnung auf die Kunst sucht „Umculo“ deshalb nach einem quasi neutralen Ansatzpunkt. Nach einer universell verständlichen, durch Klassenunterschiede nicht vergifteten Sprache. Das sozial engagierte Rahmenprogramm, wie jenes im Township Langa, soll in den jungen Menschen – vor dem Hintergrund des Themas der aktuellen Produktion – Kräfte frei setzen, die in ihnen selbst liegen.
Umculo zieht mit Schubert in den Kampf
Zum Erreichen ihres Ziels setzen Shirley Apthorp und „Umculo“ auf einem anspruchsvollen Niveau an. Seit 2015 haben sie den aus Südafrika stammenden Tenor und Regisseur Kobie van Rensburg an Bord. Van Rensburg, der viel und regelmäßig an mittelgroßen deutschen Theatern inszeniert, kümmert sich nun um die künstlerischen Inhalte Umculos und ihre Umsetzung. Alle sind sie der Überzeugung, dass die westliche klassische Musik überall auf der Welt verstanden wird und ihre Botschaften überall zur Wirkung kommen können.
Bisher waren es Opern, mit denen Umculo junge schwarze Menschen in Südafrika auf neue Ideen bringen wollte. Für dieses Jahr, im Mai 2017, hatte van Rensburg ein Programm mit Liedern entworfen. Einen ganzen, 90-minütigen Abend mit Liedern von Franz Schubert. Und dieses Programm trug auch noch – auf Deutsch! – den Titel „Schande“. Schubert, Südafrika und Schande? Kann das zusammenpassen? Kann das funktionieren?
Was die Zukunft der jungen afrikanischen Menschen anbelangt, ist alles noch ungewiss. Aktuell hat es funktioniert. „Umculo“ hat „Schande“ fünfmal im Raum Kapstadt gezeigt. Zweimal, zum Auftakt, im Theaterforum der Groote Schuur High School im gepflegten, weiß dominierten Stadtteil Newlands. Danach in Schulen und Kulturzentren verschiedener Townships. Die Aufführungen in Newlands stießen auf ein kulturerfahrenes, im Alter überwiegend fortgeschrittenes Publikum. Es reagierte dort wie es hier reagieren würde. Man applaudierte, anschließend diskutierte man. Hätte Schubert das so gut geheißen? Was hat sich der Regisseur dabei gedacht? Darf man den so mit Schubert umgehen? In den Townships Hout Bay, Kraaifontein und Langa waren es mehrheitlich Schülerinnen und Schüler, die sich „Schande“ ansahen. Und dort schlug van Rensburgs Schubert ein wie eine Bombe. Die Schüler protestierten laut, sie zischten, sie schrieen auf, sie klatschten und pfiffen mitten im Stück. Und so was bei „unserem“ Schubert, der Heideröslein unter Lindenbäumen seufzen lässt?

Natürlich nicht, denn Kobie van Rensburg, selbst Südafrikaner, lässt das Heideröslein nicht seufzen, weil es so schön ist unterm Lindenbaum. Er selbst nennt die gängige Aufführungspraxis der Liederabende „viktorianisch“. Züchtig, sexuell bereinigt, jeder Hintergründigkeit beraubt. Der Sänger am Klavier würde keinen südafrikanischen Schüler im Township aus seinem Sitz heben. Kobie von Rensburg und seinen vier Sängerinnen und Sängern mitsamt einem Mann oder einer Frau am Klavier ist aber genau das gelungen. Und das immer wieder. Schubert „funktioniert“ also in unserer Gegenwart. Wenn man ihn, wie der Regisseur Kobie van Rensburg, mit Mitteln unserer Zeit ohne Einschränkungen beim Wort nimmt.
„Schande“ zeigt, was in Schubert steckt
Van Rensburg zeigte in seiner Produktion „Schande“, was wirklich in Schuberts Liedern steckt – damals wie heute. Er spannt Lieder aus verschiedenen Epochen Schuberts zusammen, und sie fügen sich geschmeidig zu einer Lieder-Oper. Er überträgt den Gesang auf vier Solisten, Sopran, Alt, Tenor und Bass (Palesa Malieloa, Christine Bam, Nick de Jaeger, Ronald Melato) . Mit ihnen machte er aus den dialogischen Elementen, wie im „Erlkönig“ oder im „Heideröslein“, Szenen, und plötzlich wird aus einem Lied ein kleines Drama. In Schuberts Liedern, das wird schon an dieser Stelle klar, steckt überraschend viel Handlung. Diese macht van Rensburg sichtbar: Er zeigt sie in Bildern, die er auf die Bühne projiziert und die Sänger darin einbindet. Damit die Produktion leicht transportierbar und einfach zu zeigen ist, erzeugt van Rensburg das Bühnenbild nur mit Projektionen. Die Darsteller werden vor einer „Green Screen“ gefilmt und live in die Projektion hineinkopiert. So sehen die Zuschauer Filme mit live-Darstellern, eine schon technisch spannende Kombination zweier Darstellungsformen. Gesungen wird übrigens auf Deutsch. In den Projektionen sind die Übersetzungen auf Englisch und Xhosa (von der südafrikanischen Dramatikern Fatima Dike) enthalten.
Vollends spannend wird die Vorführung dadurch, was auf den Projektionen zur Musik Schuberts zu sehen ist. Seine Leinwand ist für van Rensburg kein Platz für Sentimentalitäten. Er formuliert in überall verständlicher Bildsprache, ausschließlich mit Motiven und Szenen unserer Gegenwart, worum es in so vielen Liedern Schuberts und deren Texten geht: Vergewaltigung, Missbrauch, Gewalt von Männern gegen Frauen, Unterwerfung, Tod. Van Rensburg meint, dass Schuberts berühmte „Schubertiaden“ im Kreise seiner Freunde nicht nur vergnügliche Sing-Abende waren. Dort wurden mit den Mitteln der Kunst die Themen der Zeit verhandelt, die man offen im Metternich-Österreich nicht ansprechen durfte. Und das sind die Themen, über die man im heutigen Südafrika auch nicht offen sprechen will.

Mit dem Tod geht es in „Schande“ noch relativ harmlos zu. In der ersten Episode ihres Programms zeigen die Darsteller in Liedern wie „Das Grab“, „Nachtgesang“ und „An die Apfelbäume“ die Trauer von Menschen von heute über den Verlust ihrer Lieben. Memento mori – das Leben ist endlich. Denke daran, es gut zu leben.
In Teil zwei geht es mitten hinein in die Hölle des Lebens. In „Erlkönig“ fährt ein Vater mit seinem völlig verstörten Sohn im Auto durch die Nacht. Der Vater hält das Steuer fest und die Straße sicher im Blick. Der Sohn aber kauert sich an ihn und wimmert. In Rückblenden zeigt der Film, was im Kind vorgeht: Ein Mann – ein Onkel – beugt sich über ihn und zwingt ihn zu unsittlichen Handlungen. „Mein Vater, siehst Du den Erlkönig nicht?“ ächzt der Sohn. Der Vater glaubt die Worte nicht, die Rückblende geht weiter, der Onkel windet sich vor Lust: „Mein Vater, Erlkönig hat mir ein Leids getan.“ In den folgenden zwei Liedern – „Litanei“ und „Das Greb“, D.569 – schildert van Rensburg das Leid der Eltern. Der Junge hat die Folgen des Missbrauchs nicht überlebt, seine Mutter verliert den Verstand („Litanei“) und erschießt sich. Der Vater bleibt alleine am Grab („Das Grab“). Wenigstens ein Freund ist an seiner Seite. Welch ein tiefer Einblick in die psychologischen Möglichkeiten eines allbekannten Schubert-Hits, welch schlüssige, drastische Deutung mit Bildern aus unserer Welt! Aber das war erst der Anfang. Frei nach Billy Wilder, beginnt van Rensburg in „Schande“ mit einem Erdbeben und steigert dann langsam.
In Episode 4 seines „Schande“-Abends zeigt van Rensburg zum Lied „Lebenslust“, D.609, eine Party vor einem „Shebeen“, einer der in Südafrika beliebten Bier-Bars. Übrig bleiben Mann und Frau in einer Szene zum berühmten „Heideröslein“. Vermutlich war von Anfang an – sowohl vom Dichter Goethe als auch vom Musiker Schubert – nur an ein Röslein als Metapher gedacht. Warum sollte der Jüngling auch so brutal sein, das Röslein brechen zu wollen? Und warum bleibt das Stechen erfolglos? Van Rensburg liest daraus, dass es um einen Machtkampf zwischen Mann und Frau geht. In seinem Video zwingt der Mann die Frau nieder, bekommt aber beim „Stechen“ einen Tritt zwischen die Beine. Darauf verliert er die Beherrschung ganz und wirft die Frau endgültig zu Boden. Szenen alltäglicher Gewalt, in höchster Kunst sublimiert.
Die Schüler in Langa sprangen bei dieser Szene von ihrern Stühlen auf, sie zischten laut, sie applaudierten, als „Röslein“ dem Jüngling ins Geschlecht trat und buhten, als er sie dann ganz unterwarf. Wo bei uns gäbe es je eine solche Reaktion, wo würde Schubert so die Gemüter erregen? Diese Interpretation war nicht nur exemplarisch für Schüler in Südafrika, sie ist auch wegweisend für die Schubert-Auslegung bei uns. Und eine weitere Rehabilitation für das dramatische Talent, das Schubert so stark in sich spürte und auch in der kleinen Form nicht verleugnen konnte. Am Ende des „Schande“-Abends steht daher auch das Wort. Im Melodram „Abschied von der Erde“ wird das Publikum von den vier Solisten direkt angesprochen, im Abschied ermutigt.

So gelang es van Rensburg, mit „klassischen“ Sängerinnen und Sängern und mit modernster Medientechnik in den 22 ausgewählten Liedern, ein völlig neues, brandaktuelles Schubert-Bild herzustellen und damit ins Herz dieser Kompositionen zu treffen. Mit „Hochkultur“ in unserem Sinn „kulturfremdes“ Publikum derart zu bewegen, das ist eine bei uns schier undenkbare Leistung. Aber van Rensburg hatte ein klares Ziel vor Augen und es auch erreicht: Mit den den Beispielen aus „Schande“ genau diese Reaktionen provozieren. Die jungen Menschen sollten in der Kunst erkennen, dass das Verhalten, dem sie Tag für Tag ausgesetzt sind, nicht richtig ist und sie völlig berechtigt sind, sich dagegen aufzulehnen. Gewalttätiges Verhalten, wie es van Rensburg mit den Szenen zu den Schubert-Liedern illustriert, ist eine „Schande“, „Shame“ – und wird als solche auch seit Jahrhunderten wahr genommen. Die Verklärung der Romantik hat speziell im deutschen Sprachraum dazu geführt, die Gesellschafts- und Daseins-kritischen Inhalte gerade in Schuberts Liedern nicht mehr wahrzunehmen. Allenfalls Einsamkeit und Tod wie in „Winterreise“ kommen noch herüber, aber auch dann als ein typisches Leiden einer tendenziell morbiden Epoche.
Für solche Erkenntnisse ist in Südafrika keine Zeit. Die Probleme sind akut und sie brennen. Sie gefährden die Zukunft dieses prächtigen Landes. In Schubert haben Kobie van Rendsbrug und „Umculo“ einen Mitstreiter gefunden, um dem Blick in die Zukunft etwas Hoffnung mitzugeben.
Shirley Apthorp, Umculo und Kobie van Rensburg werden weiter machen. Sie kommen wieder nach Südafrika mit neuen Programmen und mit Einsichten, zu denen uns wir gar nicht trauen würden. Kunst verändert den Menschen; das ist hier kein leeres Wort. Selbst wenn es nur ein paar Dutzend Schüler sind, die jetzt besser Bescheid wissen über ihr Leben, ihre Bedürfnisse, ihre Rechte: hier wird eine Saat gelegt für den Widerstand gegen die Gewalt im Alltag. Die Botschaft der Kunst bekräftigt junge Menschen darin, dass sie ein Recht darauf haben, eine Zukunft zu haben. Solche Arbeit verdient jede Unterstützung: www.umculo.com.